11. Oktober 2008

Ein Vormittag mit Marie Antoinette


Die Königin erwachte gewöhnlich gegen 8 Uhr.
Eine Garderobefrau trat alsdann ein mit einem Korbe, der zwei oder drei Hemden, Sacktücher und Waschlappen enthielt; das nannte man die Morgenzurüstung. Die erste Kammerfrau reichte ein Buch, in dem Kleidermuster für großen Staat, für Hauskleider usw. angeheftet waren; es waren gewöhnlich für jede Jahreszeit zwölf „große Kleider“, zwölf kleine Phantasiekleider, zwölf reiche Roben mit Reifröcken bestimmt. Die Königin bezeichnete mit einer Stecknadel die für den Tag ausgewählten Kleider: eine großes Kleid, ein Hauskleid für Nachmittag, eine robe parée für Spiel und Souper. Man trug das Musterbuch alsbald fort und brachte in großen Tafttüchern die gewählten Kleider herbei.
Die Königin badete fast täglich; man rollte eine Wanne in ihr Zimmer, und die Badefrauen wurden mit allem Badezubehör eingelassen. Die Königin hüllte sich in ein langes Hemd aus englischen Flanell, das bis hinab zugeknöpft war, und wenn sie aus dem Bade stieg, hielt man ein sehr hohes Tuch von sie, um sie gänzlich den Augen ihrer Frauen zu entziehen. Dann begab sie sich wieder zu Bette, mit einem Mantel aus weißem Taft angetan, und nahm ein Buch oder eine Stickerei zur Hand. Um 9 Uhr frühstückte sie, an Badetagen im Bade selbst auf einem auf den Deckel der Wanne gestellten Präsentierteller, an den anderen Tagen in ihrem Bette oder manchmal stehend an einem Ihrem Kanapee gegenüber hingestellten Tischchen. Es fand dann der kleine Empfang statt. Das Frühstück war sehr einfach, etwas Kaffee oder Chocolate.
Zu Mittag fand die Repräsentationstoilette; das war zugleich die Stunde des großen Empfanges. Es wurden Feldstühle herbeigerückt für die Oberintendantin, die Ehren- und Kammerdamen, die Gouvernante der königlichen Kinder; die Prinzen von Geblüt, die Gardekapitäne, alle Zutritt habenden Großwürdenträger machten ihre Cour; die Palastdamen erst nach der Toilette. Die Königin grüßte mit dem Kopfe oder durch kleine Verbeugung, wenn es ein Prinz von Geblüt war; sie stütze sich auf den Putztisch, um das Zeichen zum Aufstehen zu geben. Die Brüder des Königs kamen gewöhnlich, während man sie frisierte.
Der gewöhnlich reich geschmückte Putztisch wurde in die Mitte des Zimmers gezogen. Hier wurde Toilette gemacht. Die Ehrendame reichte das Hemd und goss das Wasser auf zum Waschen der Hände; die Kammerdame reichte den Unterrock zur Robe oder zum großen Kleide, legte das Halstuch um und befestigte das Collier. In diesem Augenblicke händigte am ersten jeden Monats Herr Randon de la Tour der Königin in einem weißledernen, mit Taft gefütterten und silberbestickten Beutel den für ihre Almosen und ihr Spiel bestimmten Betrag ein. Später stellte Marie Antoinette diesen Gebrauch ab. War die Frisur fertig, so grüßte sie die in ihrem Zimmer befindlichen Damen und ging, bloß von ihren Frauen begleitet, in ihr Cabinet, um sich anzukleiden; dort traf sie ihre Modistin, Fräulein Bertin, zu jener Zeit die oberste Richterin in Sachen des Putzes und Geschmackes.
Nach der Vollendung der Toilette ging die Königin, begleitet von der Oberintendantin, den Ehren- und Plastdamen, dem Ehrenkavalier, dem ersten Stallmeister, ihrem Klerus und den Prinzessinnen der königlichen Familie durch den Friedensalon und über den Gang, um sich zur Messe zu begeben. Sie hörte diese samt dem Könige auf einer Tribüne gegenüber dem Hochaltar, ausgenommen an den Tagen, wo „große Kapelle“ war, und wo sie der Messe unten auf Teppichen mit Goldfransen beiwohnte.
Nach der der Messe kam das Diner. Der Haushofmeister trat ins Zimmer der Königin, meldete, dass aufgetragen sei und überreichte das Menu.

Memoires de Mme Capman, p. 97 und 98

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