Anweisung von Marie Antoinette,
an die Markgräfin Tourzel.
Mein Sohn wird in zwei Tagen vier Jahre
und vier Monate alt; seine erster Anblick genügt. Er ist niemals
krank gewesen, doch hat man an ihm schon in der Wiege eine
außerordentliche Empfindlichkeit der Nerven wahrgenommen und das
geringste ungewöhnliche Geräusch vermochte auf ihn eine Wirkung
auszuüben. Seine ersten Zähne sind sehr spät, aber ohne den Anfall
irgend einer Erkrankung durch gebrochen. Nur bei den letzten, ich
glaube bei dem sechsten, hat er in Fontainebleau Krämpfe gehabt.
Seither hat er noch zweimal daran gelitten zuerst im Winter 87 auf 88
und dann, als er geimpft wurde., doch dieses letzten mal nur in sehr
leichtem Grade. Infolge seiner zarten Nerven erschrickt er bei dem
ersten besten ungewohnten Geräusch. So fürchtet er sich zum
Beispiel vor Hunden, weil er ihr Gebell nahe seinem Ohre gehört hat.
Ich habe ihn niemals in ihre Nähe gezwungen, denn ich glaube, daß
seine Furcht mit der Entwicklung seines Verstandes von selbst
schwinden wird. Wie alle kräftigen gesunden Kinder ist er kopflos,
leichtfertig und jähzornig, doch ist er dabei ein guter Junge und
wenn ihn sein Leichtsinn nicht mit fortreißt, sogar von hingebender
Zärtlichkeit. Und dann ist seine Eigenliebe außerordentlich
entwickelt; bei richtiger Erziehung kann sie sich aber für ihn zum
guten wenden. Solange er mit jemand sich nicht recht verträgt, weiß
er an sich zu halten und seine Unarten und auch seinen Zorn zu
meistern, und für ein braves, liebenswürdiges Kind zu gelten. Ein
einmal gegebenes Versprechen hält er gewissenhaft ein, doch ist er
sehr vorlaut; er wiederholt gerne, was er von Freunden gehört hat
und fügt mitunter, ohne gerade lügen zu wollen, Selbsterfundenes
hinzu. Das ist sein Größter Fehler, den man ihm abgewöhnen muss.
Im übrigen ist er, wie gesagt, ein gutes Kind: mit Liebe und ein
wenig Energie, ohne allzu große Strenge kann man bei ihm alles
erreiche. Doch Strenge reizt ihn: er zeigt für sein Alter bereits
viel Festigkeit, So hat er sich zum Beispiel von seiner frühesten
Kindheit an durch das Wort „Verzeihung“ verletzt gefühlt. Wenn
er ein Unrecht begangen hat, tut und sagt er alles, was man von ihm
verlangt, doch das Wort: „Verzeihen Sie“ bringt er nur unter
strömenden Tränen und bitteren Schmerzen über die Lippen. Meine
Kinder sind von Jugend auf im größten Vertrauen zu mir erzogen
worden und müssen mir ihr Unrecht immer von selbst beichten. Wenn
ich sie dann schelte, scheine ich eher bekümmert und über ihr
Benehmen betrübt als erzürnt. Ich habe sie daran gewöhnt, mein Ja
oder Nein für unwiderruflich zu halten, doch gebe ich ihnen dafür
immer einen Grund an, den sie bereits verstehen können, damit sie
nicht glauben, ich sei von übler Laune beeinflusst. Mein Sohn kann
noch nicht lesen und lernt sehr schwer, doch hindert ihn
hauptsächlich sein Leichtsinn am Fleiße. Von seiner hohen Geburt
hat er keine Vorstellung, ich wünsche, dass dies so bleibt, unsere
Kinder erfahren noch früh genug, wer sie sind. Seine Schwester liebt
er sehr, denn er ist überhaupt gutherzig, und so oft ihm irgend
etwas, sei es ein Spaziergang oder ein Geschenk, Freude macht, ist
sein erstes Verlangen, daß seine Schwester ihr Teil davon erhalte.
Er besitzt ein heiteres Gemüt, um seiner Gesundheit willen soll er
möglichst viel an der Luft sein; nach meiner Ansicht lässt man ihn
dabei am besten am Boden und auf den Terrassen arbeiten oder spielen,
anstatt ihn weiter hinaus spazieren zu führen. Das umher laufen und
spielen im Freien schlägt den kleinen Kindern viel besser an als das
erzwungene Gehen, bei dem sie oft Seitenstechen bekommen.
Fortsetzung folgt
1 Kommentar:
Die armen Menschen. Es ist einfach erschütternd. Ich kenne Leute, die sich sehr überlegen fühlen und gerne auf dem französischen Königshaus (auf anderen auch, natürlich) geradezu mit Hass und Häme herumreiten.
Für mich sind es immer nur Menschen gewesen. Und wenn man einen Text wie diesen liest, treten sie so lebendig in unsere Wirklichkeit, als wären sie unsere Freunde.
Die Mutter möchte ihren Kleinen die (wirklich ekligen) Schmerzen des Seitenstechens ersparen... Wir aber wissen, was kommt. Das Herzchen, vertrocknet und in Alkohol schwimmend, ist alles, was von dem armen Würmchen, das völlig schuldflos zugrunde geschunden wurde, blieb.
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